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Max Nyffeler: Von der Erziehung der Maschinen
Laudatio zur Verleihung des Reinhold-Schneider Preises 1990 an Hans Peter Haller und André Richard am 29.November 1990.

Sehr verehrte Damen und Herren,
lieber Hans Peter Haller, lieber André Richard!

Sie alle kennen das Sagen- und Kinomonster Golem: ein künstliches Lebewesen, das der Kontrolle seines Erzeugers entgleitet und mit zerstörerischer Energie das ganze Stetl in Schutt und Asche legt. Zwar ist es dem Kopf eines mittelalterlichen Rabbis entsprungen, das phantastische Produkt der Kreuzung von Alchemie und Kabala. Doch als Symbol für die Hybris menschlicher Vernunft ist es, wie sein jüngerer Bruder Frankenstein, in die moderne Trivialmythologie eingegangen.
Heute, da die Wissenschaft Leben nicht nur zerstören, sondern auch in der Substanz verändern und vielleicht bald auch zeugen kann, sind solche Mythen aktueller denn je. Der Höhenflug der Vernunft gebiert ständig neue Ungeheuer. Negativutopien haben Konjunktur. Neue Golems tauchen am Horizont unseres Alltags auf und werfen ihre Schatten.
Der heutige Golem in trivialmythologischer Sicht ist der Computer. Zu dieser Rolle eignet er sich vorzüglich, scheint er sich doch von einem Arbeitsinstrument zu einem unkontrollierbaren Herrschaftsinstrument zu verwandeln. Er ermöglicht Weltraumkriege und versklavt Heimarbeiterinnen. Er verursacht Börsenkräche und befähigt irgendwelche anonymen Eliten zur Entwicklung von verschlüsselten Metasprachen. Mit seiner Hilfe können gesellschaftliche Prozesse über die Köpfe der Menschen hinweg global beeinflußt werden.
Materialien für Horrorszenarien in Science-Fiction-Roman, Fernsehserien und Spielsalon, wo die Machtergreifung der Künstlichen Intelligenz schon voll im Gang ist.

Sie sehen, meine Damen und Herren, worauf ich hinaus will: Wenn eine Erfindung wie der Computer unseren Alltag so grundlegend revolutioniert, daß die Konsequenzen – positive oder negative – noch überhaupt nicht abzusehen sind, dann soll man sich hüten vor voreiligen Lobgesängen auf den Segen des Fortschritts. Hinweise auf das Stichwort „Dialektik der Aufklärung“ wären da vielleicht eher angebracht.
Wie ist unter dieser Voraussetzung eine Laudatio zu halten für die Leiter einer Institution und damit auch für die Institution selber, deren Ziel und Raison d‘être die Anwendung der neuesten technischen Mittel ist, Mittel, zu denen heute eben auch der Computer gehört? Dass es künstlerische Prozesse sind, die per Computer gesteuert und verändert werden sollen, macht die Sache nur noch suspekter. Man könnte zwar gegen dieses Misstrauen anführen, daß hier – im Fall des Freiburger Experimentalstudios – nicht primär Klänge elektronisch erzeugt, sondern nur die von lebendigen Musikern auf der Bühne produzierten Klänge – „in Echtzeit“ oder „Realtime“, wie der Ausdruck lautet – elektronisch bearbeitet werden, daß es also um Instrumentalklänge geht, die gefiltert, transformiert und über unzählige Lautsprecher im Raum verteilt werden. „Live-Elektronik“ heißt übrigens dieses Verfahren.
Aber der grundsätzliche Einwand mag bestehen bleiben: Die kalte Technologie und die lebendige Musik, das verträgt sich doch nicht.
Doch, verehrte Damen und Herren, ich meine: wer so denkt, verkennt zweierlei: Erstens, daß eben beide – die binäre Computerlogik und die Logik der Musiksprache – Ausdruck ein und desselben menschlichen Bewußtsein sind. Und zweitens, daß hinter den Maschinen Menschen sitzen. Oder, um es im Computerjargon zu sagen: Daß, um dieser hochgezüchteten Hardware irgendeinen Sinn abzugewinnen, es der menschlichen Software bedarf – der Köpfe. Mit dieser Art von „Software“ meine ich aber nicht weiche Birnen, fachidiotisch angematscht und abgefüllt mit binärem Formelkram, sondern ich denke dabei an durchaus harte Schädel, die sich gegen die schwerfällige Eigengesetzlichkeit der Maschinen durchzusetzen vermögen. Die von den Maschinen nicht nur zu bestimmtem Verhalten erzogen werden, sondern diese gleichsam „zurückerziehen“.
Und damit komme ich nun gleich zu einer Besonderheit der hier zu lobenden Einrichtung und ihrer Leiter, eine Besonderheit, die einem seltenen Glücksfall in dieser Branche, etwas schlechthin Außergewöhnlichem gleichkommt: Die Köpfe, die im Freiburger Experimentalstudio hinter den Maschinen stecken, sind klare, kritische, kreative Köpfe. In ihnen vereinigt sich das rationale, analytische Denken, das für die Kontrolle des Computers unabdingbar ist, mit Phantasie, Sensibilität und künstlerischem Verstand.
Eine Würdigung der Institution wird damit unversehens zu einer Würdigung der Menschen, der Menschen, die sie geschaffen haben, die in ihr arbeiten und sie mit ihrer Persönlichkeit prägen. Allem voran sind das die beiden heutigen Preisträger, der langjährige Leiter Hans Peter Haller und sein Nachfolger André Richard, der sein Amt vor einem Jahr erst angetreten hat, aber schon jetzt dabei ist, die nötigen Weichen für die Zukunft zu stellen. Auf beide werde ich gleich noch näher eingehen.
Es sind aber auch diejenigen, die diese Einrichtung mit Weitsicht gegründet, sie institutionell verankert und ihr nach innen und außen den nötigen Freiraum bewahrt haben. Ich denke da an den Namensgeber Heinrich Strobel, zu dessen 70. Geburtstag im Jahr 1968 die Trägerstiftung ins Leben gerufen wurde; ich denke auch an die, die ihm nachfolgten und dazu beitrugen, daß das Experimentalstudio sich nicht nur technisch laufend verbessern konnte, sondern auch seinen internationalen Ruf als Werkstatt der musikalischen Avantgarde festigen konnte: an Otto Tomek und Christof Bitter vom Südwestfunk, an Hans Oesch als Vorsitzenden des Kuratoriums.
Und nicht zu vergessen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb des Experimentalstudios selbst: ein Team, das mit der ganzen Maschinerie in einer eigentümlichen Symbiose lebt und täglich bedient, wartet, füttert, programmiert und verwaltet: Tierwärtern im Zoo gleich, die auf Du und Du mit den Insassen ihres Geheges sind. Die Namen dieser Wärter möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Rudolf Strauß (Toningenieur), Rolf Pfäffle (Tontechnik) Bernd Noll (Labortechnik) und Renate Damß im Sekretariat.
Von allergrößter Bedeutung in diesem menschlichen Umfeld der Maschine (wir sind ja immer noch bei der „Software“) sind schließlich die vielen Komponisten, für die das ganze Unternehmen ja gedacht ist. Sie sind nicht nur die künstlerischen Nutznießer des Studios, sondern sie sorgen mit ihren Anregungen auch für dessen lebendige Weiterentwicklung. Also auch hier: Gegenseitige Beeinflussung von Mensch und Maschine. Einige von ihnen übten über mehrere Jahre die Funktion eines künstlerischen Beraters aus; ich nenne Cristóbal Halffter, Luigi Nono und Dieter Schnebel. Ihre Tätigkeit war auch konzeptioneller Art. Sie führte etwa im Fall des jüngst verstorbenen Luigi Nono zu bahnbrechenden Resultaten etwa im Bereich der Raumklang-Komposition.
Die jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Luigi Nono und Hans Peter Haller dürfte zu den faszinierendsten Kapiteln der Geschichte des Experimentalstudios gehören. Nono sagte einmal, er habe für das Komponieren mit Live-Elektronik von Haller soviel gelernt wie Johannes Brahms vom Geiger Joseph Joachim für sein Violinkonzert. Und wer Hans Peter Haller über seine Arbeit mit Nono reden hört, der fühlt sofort, welches kongeniale Verhältnis zwischen den beiden über Jahre hinaus geherrscht haben muß
Meine Damen und Herren, ich habe absichtlich etwas ausführlicher das ganze personelle Umfeld des Experimentalstudios geschildert, denn ich möchte eine Schlussfolgerung daraus ziehen. Sie lautet: Die neue, komplexe Technik eines solchen Studios ermöglicht nicht nur eine völlig neue Art von Kunstwerken, sondern sie erfordert auch neue, komplexe Arbeitsmethoden und eine differenzierte soziale Organisation. Ohne Teamwork wäre das Ganze schlicht nicht funktionsfähig. Das ist die neue Ästhetik des Computerzeitalters: Das Kunstwerk als gemeinschaftliches Produkt vieler hochspezialisierter Individuen, die alle zu autonomen Entscheidungen fähig sein müssen. Oder anders gesagt: die Maschine hält die Menschen zu neuen sozialen Umgangsformen an, zu kollektiver Verantwortung und Zusammenarbeit. Emanzipation durch den Computer? Vielleicht (und hoffentlich) wird man es später einmal so sehen.

Hans Peter Hallers Leben ist geprägt durch diesen produktiven Umgang mit Technik. Ich will hier jetzt nicht zu einer langen Würdigung seiner Leistungen ansetzen. Viele, die ihn besser kennen, weil sie mit ihm zusammenarbeiteten, haben das in kompetenter Weise getan: Luigi Nono, Klaus Huber, Emmanuel Nunes, Dieter Schnebel, Pierre Boulez und viele andere. Ihre freundschaftlichen Grüße sind nachzulesen im Band 6 der von der Heinrich-Strobel-Stiftung herausgegebenen Schriftenreihe „Teilton“. Dieser Band erschien als Festschrift für Haller im letzten Jahr, als er, sechzigjährig, sich von der Leitung des Experimentalstudios zurückzog.
Ich möchte hier nur auf einen Aspekt seiner Arbeit hinweisen, der, wie mir scheint, etwas mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Hans Peter Haller vereinigt in sich die Eigenschaften eines Künstlers und eines Ingenieurs. Er studierte nach dem Krieg nebst Kirchenmusik auch Komposition, o.a. bei Fortner und Leibowitz, er war als Bühnenkomponist und Dirigent tätig, bevor er zum Rundfunk kam, und übrigens spielt er auch heute noch gelegentlich am Sonntag die Orgel. Er ist also nicht nur in technischen Dingen rundum beschlagen, kennt sich nicht nur aus mit Reglern, Filtern, Steuergeräten, mit analogen und digitalen Klangumwandlern, spannungskontrollierten Verstärkern, Zeitverzögerungsmaschinen und dem von ihm mitentwickelten Raumklangsteuergerät, dem Halaphon, sondern Hans Peter Haller macht auch Musik.
In dieser engen Kombination von Theorie und Praxis, in der Verbindung von naturwissenschaftlich-physikalischer Beobachtung und ästhetischer Reflexion zeigt sich, wie mir scheint, etwas von jener Fähigkeit zu ganzheitlicher Erkenntnis, wie sie den Renaissancemenschen vom Schlage eines Leonardo da Vinci eigen war. Hans Peter Haller Haller ist ein Handwerker in diesem traditionellen Sinn, ein Erfinder mit Gabe künstlerischer Anschauung. Den Erfindergeist, mit dem er begabt ist, ließ er nun fast zwei Jahrzehnte lang sowohl dem Experimentalstudio als auch den darin arbeiteten Komponisten in völlig uneigennütziger Weise zugute kommen.

Mit André Richard hat er vor einem Jahr einen würdigen Nachfolger gefunden. Nicht nur, daß André Richard wie Hans Peter Haller immer zuerst an die anderen und dann erst an sich denkt; nicht nur, daß er seine Arbeit als künstlerischer Leiter des Studios, wie sein Vorgänger, in erster Linie als Übersetzer, als Ermöglicher betrachtet. André Richard ist Künstler. Und in dieser Eigenschaft vor allem ist ihm der Reinhold Schneider-Preis zuerkannt worden. Er ist ein Musiker im umfassenden Sinn. Zum einen ist er Mitbegründer und Leiter des Solistenchors Freiburg, mit dem er die Chorpartien u.a. von Luigi Nons schwierigen Werken vorbildlich klar und rein zur Aufführung bringt – „Das atmende Klarsein“, der Titel eines dieser Werke, könnte auch für Richards Übersetzung und Arbeit stehen. Sodann hat er durch seine Mitarbeit am Institut für Neue Musik der Freiburger Musikhochschule und als Organisator der „Horizont“-Konzertreihe exemplarisch gezeigt, wie neue Musik im Hochschulbetrieb und in der Öffentlichkeit erfolgreich durchzusetzen ist gegen alles dumpfe Gemurmel von Unverständlichkeit u.dgl. Und schließlich – und das ist der Kern seines Künstlertums – ist André Richard Komponist: ein Komponist, der unerbittlich an seinen Partituren feilt und ihnen damit eine Präzision des Ausdrucks und eine Überzeugungskraft verleiht, denen man sich beim Hören nicht entziehen kann. Aufführungen seiner Werke in vielen Ländern, bei vielen bedeutenden Festivals, haben dies gezeigt. Auch hier also: ein umfassender, ganzheitlicher Begriff von Musik, in dem Theorie und Praxis, Forschung und künstlerischer Ausdruck zusammengefaßt werden. Hier liegt wohl die Wurzel von André Richards unruhiger und doch konzentrierter Intelligenz, der Ursprung seines ständigen Suchens nach Neuem – Eigenschaften, die gerade im Umgang mit einer schnell sich entwickelnden Technik von unschätzbarem Wert sind. Um die Zukunft des Freiburger Experimentalstudios braucht man deshalb nicht zu bangen.

Und damit sind wir zum Schluß wieder bei unseren Musikmaschinen angelangt. Verehrte Damen und Herren! Nach meinen Ausführungen und wenn Sie den beiden Preisträgern hier in ihre ehrlichen Gesichter schauen, dann gehen Sie bestimmt mit mir einig: Der elektronische Golem ist bei ihnen gut aufgehoben, oben in der Alten Mühle im Schauinsland: Hier wird es durch Vernunft gebändigt, kulturell domestiziert, zur höheren Ehre der Musik gehegt, gefüttert und gepflegt. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß er eines Tages das Tal herunterkommt und die Stadt verwüstet.
Preise nimmt er übrigens jeder Zeit gerne entgegen.
Einleitend habe ich von den noch nicht absehbaren Konsequenzen gesprochen, die die Computertechnologie für unser tägliches Leben hat. Es gibt eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit solchen Fragen befaßt. Der Name dafür ist Technology Assessment, auf Deutsch etwa „Abschätzung der Technologiefolgen“. Ich wage zu behaupten, daß diese Zukunftsforschung im Freiburger Experimentalstudio längst im Gang ist; daß die darin Arbeitenden – auch wenn sie vielleicht gar nicht daran denken – seit langem schon dabei sind, im Bereich der Ästhetik etwas zu erproben, was beim Einsatz der Hochtechnologie in der Gesellschaft vielleicht einmal als Modell gelten könnte. Kunst als Utopie einer vernünftigen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der die vom Menschen geschaffenen Werkzeuge nicht zur Zerstörung eingesetzt werden, sondern zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse und zur geistigen Bereicherung aller.
Sie, lieber Hans Peter Haller und lieber André Richard, laborieren nicht nur an der Erschließung neuer Klangwelten, sondern auch an neuen Formen menschlichen Handelns und Zusammenlebens.